Karl May zur Kunst 1907
Briefe über Kunst ( und Weihnacht )
===================================
Karl May im Jahre 1907
... Denn »Kunst« und »Weihnacht« stehen eng beisammen...Ich sagte da,
daß jede wahre Kunst zum Welterlöser emporführe. Sie wird zum Wege
nach dem eigentlichen, dem seelischen, dem geistigen Bethlehem.
Ich denke also nicht daran, daß die Produkte gewisser Künste oder
Kunstgewerbe als Weihnachtsgaben verwendet werden, sondern ich
möchte den Blick Ihrer Leser auf Höheres und zugleich auf Tieferes
richten. Nämlich darauf, daß die wirkliche, die heilige Kunst Alles, was sie
behandelt, nicht als geschehen, sondern als geschehend darzustellen hat.
Nur das ist Kunst, was Vergangenes in Gegenwärtiges verwandelt, um es
uns begreiflich, vertraut und lieb und wert zu machen. ..., die Kunst ist
berufen, unser irdisches Wissen zum himmlischen Glauben emporzuführen.
Nur der »Kunst des Vergegenwärtigens« ist es möglich, dieser
hochwichtigen Aufgabe gerecht zu werden. Um uns dies klar zu machen,
können wir getrost beim »Weihnachtsfest« und beim »Erlöser« bleiben.
Die edle, die aristokratische Kunst führt ja zu diesen Beiden hin, niemals
aber von ihnen hinweg..., und ist
ihr stets das Bestreben eigen, das Niedrige zum Höheren emporzuheben,
das Diesseits in das Jenseits überzuleiten und auf diese Weise die
Wissenschaft mit dem Glauben auszusöhnen. Der wahre Künstler weiß oder
fühlt dies ganz genau...
Wie aus meinem vorigen Briefe ersichtlich, hat die Kunst in das innere
Wesen ihres Gegenstandes einzudringen, um es dann harmonisch mit dem
Äußeren darzustellen. Sie tut dies im allerhöchsten Grad auch dann, wenn
sie Weihnacht feiert. Sie schaut das Kind von Bethlehem, den Lehrenden,
den Leidenden, den Sterbenden, den Auferstandenen und Aufgefahrenen,
sogar den Wiederkommenden am großen, jüngsten Tage. Das ist das
Äußere. ... ein wirklicher Künstler ist: Er läßt den Stoff, das Holz, weinen,
und er läßt es jauchzen. Er gibt ihm die Träne und den Juchezer, den
Schmerz und die Freude. Das ist das Innere. Aber noch tiefer als dieser
Schmerz und diese Freude liegt etwas anderes, nämlich das psychische
Erleben des äußerlich Geschauten.
Indem er sein »Weihnacht« feiert, um es darzustellen, sucht er nach dem
tiefsten Grunde des Erlösungsgedankens, also nach der »Schuld«. Und wo
kann er diesen Grund denn wirklich und in Wahrheit finden, als nur in sich
selbst, in seinem eigenen Innern? Er ringt mit seiner Anima, die ihm die
Selbsterkenntnis verweigert, wie einst der erste Mensch mit der
Schlange, die ihn durch die Lüge, er werde sein wie Gott, über sich selbst
zu täuschen wußte. Er geht, wie Jesus, der Knabe, in den Tempel, um das
Allerheiligste, was es gibt, auf sich einwirken zu lassen, und er wird dann
in die Wüsten des sinnlichen Lebens geführt, um versucht zu werden. Er
erlebt an seinem eigenen Genezareth, der tief in ihm verborgen liegt, die
Wunder Christi an der Menschheitsseele, und hört in sich die ernsten
Stimmen klingen, die von dem heiligen »Berg der Predigt« stammen. Er hat
als Künstler sein Jerusalem, wo er ein trügerisches »Hosianna« findet, und
dann gewißlich auch sein Golgatha, auf welchem die Erhöhung Qual und Tod
bedeutet. Und hat man ihn gemartert, bis der Vorhang in ihm reißt, so
kommt das Grab, das allbekannte Künstler- oder Dichtergrab, in welchem
er verfaulen und verwesen soll, obgleich er als Mensch, als Individuum
noch weiterlebt, noch nicht gestorben ist.
Doch, wenn Gott will, gibt es ein Auferstehen und dann die Himmelfahrt,
zum Himmel Gottes in der Brust des Menschen. Denn ich schreibe nicht als
Theolog, als Priester, sondern als Laie – – nur als Mensch. Um an die
einstige Seligkeit zu glauben, glaube ich an die schon jetzige, die jedem
Menschen möglich ist, der nach Verklärung strebt.
Bei diesem In-Sich-Selbst-Erleben des christlichen Weihnachts- und
Erlösergedankens ... um sich bis zur Auferstehung oder gar noch weiter
durchzuringen.
Die wenigen aber, die ihr Golgatha überdauern, indem sie von dem Tode
wieder auferstehen, werden über diese Art der Tragik anders denken,
denn vor ihnen liegt nur noch der letzte, höchste Schritt, der übrig bleibt:
Die Himmelfahrt.
Nur der, dem auch dieses Allerletzte und Allerschwerste gelingt, ist in die
Tiefe des »Weihnachtsgedankens« völlig eingedrungen. Er kann, wie einst
die Engelscharen, aus seinem Himmel getrost zur Krippe niedersteigen,
denn ihm und seiner Kunst ist es nun möglich, auf die Frage »Was will aus
dem Kindlein werden?« die einzig richtige Antwort zu geben, welche den
Himmel mit der Erde und den Glauben mit der Wissenschaft versöhnt.
Jede wahre Kunst ist Weihnachtskunst, denn sie bringt Erlösung des
Stoffes und Erlösung vom Stoffe; beides ist richtig. Sie feiert allezeit
Weihnacht, nicht jährlich, nur einmal. Sie feiert es im Verein mit dem
wahren christlichen Glauben, der seine Glocken auch nicht jährlich nur
einmal, sondern ohne Unterlaß läutet, damit der Lobgesang der
Heerscharen
»Ehre sei Gott in der Höhe!«
»Und Friede den Menschen auf Erden!«
Wirklichkeit sei ...